3.12.2024

Tagungsbericht «Fragen zum Archivzugang»

Alix Heiniger, Vizepräsidentin und Vorstandsmitglied der SGG (Abteilung «Wissenschaftspolitik»), begrüsste die Teilnehmenden zum Workshop und betonte die Wichtigkeit des Dialogs zwischen Geschichtswissenschaft und Archivwesen. Zudem wies sie auf das Spannungsfeld zwischen dem Öffentlichkeitsprinzip und dem Schutz individueller Rechte hin, das sich in zwei entgegengesetzten Bewegungen manifestiert: Zunehmende Bemühungen zur Öffnung und öffentlich (online) zugänglichen Bereitstellung von Akten gegenüber zunehmenden Restriktionen im Archivzugang. Deswegen sei der Dialog zwischen Historiker:innen und Archivar:innen, dem der Workshop verpflichtet ist, zentral. 

Impressionen aus dem Workshop.

Panel I: Zugang zu den Akten des VBS

Im ersten Panel wurde der Zugang zu den Akten des Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) diskutiert. Michael Olsansky (Militärakademie der ETH Zürich) kritisierte die zunehmend restriktive Behandlung von Einsichtsgesuchen in die historisch relevanten Akten des VBS. Er befürchtet eine Verarmung der Schweizer Militärgeschichte, weil der Zugang zu sicherheitspolitisch «heiklen» Dokumente immer restriktiver gehandhabt werde. Dies zeige sich an der wachsenden Menge an unter einer erhöhten Schutzfrist gestellte Dossiers (Anhang III der Verordnung über das Bundesgesetz über die Archivierung (VBGA)), darunter auch zuvor frei zugängliche Dokumente. Das Hauptproblem sieht Olsansky in den intransparenten Entscheidungsprozessen und unklaren Zuständigkeiten innerhalb der Bundesverwaltung. 

Panel 1: Zugang zu den Akten des VBS.

Ein anderes Bild zeichnete Niels Rebetez, der für seine Freiburger Dissertation zu Schweizer Militärdienstverweigerern in der Periode von den 1960er- bis 1990er-Jahren forschte. Er konsultierte für dieses Projekt vor allem die Gerichtsakten der Militärjustiz. In seinen Recherchen fiel ihm die gute Zugänglichkeit und Fülle von Akten für die 1960er- und 1970er-Jahre auf. Allerdings nimmt der Umfang des Bestandes für die 1980er- und 1990er-Jahre stark ab, grosse Teile wurden im Bundesarchiv nie katalogisiert und sind daher für die Forschung kaum zugänglich.

Daniel Kohler (Bibliothek am Guisanplatz) betonte die knappen personellen Ressourcen des VBS-Archivdienstes, was zu Verzögerungen bei der Beantwortung der Gesuche führen könne. Als Gründe für die Ablehnung von Akteneinsichtsgesuchen nannte er erstens die militärische Sensibilität von Dokumenten, insbesondere wenn sie noch im Einsatz stehenden Anlagen betreffen. Zweitens kann eine potenzielle Gefährdung der Beziehung der Schweiz zu anderen Staaten eine Ablehnung zur Folge haben. Drittens können Gesuche abgelehnt werden, wenn sie den Persönlichkeitsschutz von Einzelpersonen betreffen. Er stellt ebenfalls eine extensive Auslegung des Datenschutzgesetzes fest, betonte aber auch, dass über 90 % der Akteneinsichtsgesuche in die Dossiers des VBS positiv beantwortet würden. Er riet Forschenden, sich vor der Lancierung neuer Forschungsprojekte über die Zugänglichkeit der Akten zu informieren.

Panel II: Zugang zu Familienarchiven

Das zweite Panel thematisierte den Zugang zu Familienarchiven. Claudia Engler (Burgerbibliothek Bern) legte der Archivierungspraxis in der Burgerbibliothek Bern dar, die unter anderem die Privatarchive der Berner Burgerfamilien verwaltet. Der Zugang zu diesen Archiven wird durch privatrechtliche Verträge geregelt, wobei die Burgerbibliothek darauf bedacht sei, den Zugang möglichst selbst zu regeln. Engler betonte, dass die Beziehungspflege zu den Familien und eine aktive Beschaffungspolitik zentral für ihre Arbeit seien. 

Panel 2: Zugang zu Familienarchiven.

Lionel Bartolini erläuterte die Aufgaben des Staatsarchivs Neuenburg im Bereich der Privatarchive. Die Arbeit erfordert ständigen Kontakt mit den Familien, Neuverhandlungen bei veränderten Ansichten über die Handhabung der jeweiligen Privatarchive, eine aktive Beschaffungspolitik und die Rücksichtnahme auf Befindlichkeiten der Familien hinsichtlich Reputationsschäden oder der Gefahr von Reparationsforderungen, zumal in diesem Zusammenhang das Risiko bestünde, dass die Familien ihre Privatarchive aus dem Staatsarchiv zurückziehen. Anfragen von Historiker:innen werden grundsätzlich wohlwollend behandelt, aber bei Ablehnungen von Einsichtsgesuchen fordert Bartolini Verständnis für die delikate Situation des Staatsarchivs, das zwischen den Interessen der Familien und der Forschung abwägen müsse.  

Fabio Rossinelli (Universität Genf) forscht zu kolonialen Verbindungen von Schweizer Patrizierfamilien und beschäftigte sich dabei mit Neuenburger Familien und machte unterschiedliche Erfahrungen im Umgang mit deren Privatarchiven. Die Familie de Pourtalès hatte in Folge der Rezeption des Buches La Suisse et l’esclavage des Noirs (2005) ihr Privatarchiv aus Furcht vor Reputationsschäden geschlossen. Der Zugang zu einigen wichtigen Dokumente im Privatarchiv der Familie de Meuron im Staatsarchiv Neuenburg blieb Rossinelli bei seinen Recherchen ebenfalls verwehrt. Zudem ist der Zugang zu Privatarchiven des Staatsarchivs Neuenburg erst durch ein umfassendes Gesuch mit Schilderung der Forschungsabsicht möglich. Die Familie de Pury dagegen lud Rossinelli persönlich in ihr Privatarchiv ein und ermöglichten ihm die Recherche ohne jedwede Restriktionen.1 Rossinelli bemängelte das Fehlen gesetzlicher Grundlagen, die den Abzug von bereits im Inland gelagerten Privatarchiven ins Ausland verhindern. 

Panel III: Zugang zu Digital Oral-History-Projekten

Heike Bazak (PTT-Archiv) stellte im dritten Panel das Oral-History Projekt des PTT-Archivs vor, das zahlreiche Videoquellen frei zugänglich macht. Dabei werden auch KI-Transkriptionsprogramme genutzt, die Mundarttexte ins Hochdeutsche übersetzen können. Das Projekt soll der Sicherung des historischen Gedächtnisses vergangener Berufsgruppen bieten und die Lücke schliessen, die die geringere Anzahl Archivakten aus den 1990er-Jahren auslösten. Das PTT-Archiv stellt Metadaten von Interviewpartner:innen frei zur Verfügung. 

Panel 3: Digitale Oral-History-Projekte.

Cord Pagenstecher (FU Berlin) stellte das Oral-History.Digital–Interviewportal vor, das Quellen aus erinnerungspolitischen Institutionen wie Museen oder NGOs zugänglich macht. Zwei laufende Oral-History-Projekte widmen sich der Colonia Dignidad und der Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkriegs. Zur Konsultierung der Quellen ist eine Anmeldung und anschliessende Freischaltung notwendig, um den Persönlichkeitsschutz der Zeitzeug:innen zu gewährleisten. Die Metadaten einzelner Dokumente sind hingegen anonymisiert frei verfügbar. 

Gregor Spuhler (Archiv für Zeitgeschichte) erklärte, dass 72 % der Ton- und 85 % der Videoaufzeichnungen des AfZ nach bewilligtem Nutzungsantrag digital verfügbar sind. Einen wichtigen Quellenbestand stellen Interviews von Zeitzeug:innen der Shoa dar. Während KI-Texterkennungssoftware die Kosten für Transkription halbierten, steigen die Speicherkosten aufgrund höherer Erwartungen an die Bildauflösung. Transkriptionen werden als Ersatzdokumente nicht ohne Einschränkung im Internet publiziert, während Sequenzbeschreibungen von Videos als «Vorschau» verfügbar sind. Spuhler betonte, dass im Falle von unlösbaren finanziellen Schwierigkeiten ein Notfallplan bestehe, um die Daten zu komprimieren und allenfalls an die Cinemathèque Suisse zu übergeben, um so eine langfristige Zugänglichkeit der Quellen zu gewähren.

Insgesamt zeigte die Tagung, dass das Thema Archivzugang für die historische Forschung eine fundamentale Herausforderung bleibt. Das zeigt sich nicht nur anhand von Fragen über den langfristigen Zugang zu Quellen im Zuge der Digitalisierung, sondern auch am immer extensiver ausgelegten Datenschutz, der insbesondere die Zeitgeschichte abzuwürgen droht. 

1 In einer früheren Version dieses Tagungsberichts wurde fälschlicherweise geschrieben, dass die Familie de Pury Fabio Rosinelli persönlich einlud, aber nur unter Aufsicht einer Drittperson recherchieren liess. 

Hinweis: Zu jedem Panel wurde ein kurzes Videostatement einer beteiligten Person aufgenommen, in dem persönliche Erfahrungen und Einblicke zum jeweiligen Thema vorgestellt werden. Diese Videos wurden in der Woche ab dem 25. November auf den Social-Media-Kanälen der SGG veröffentlicht: Instagram, LinkedIn & X (ehem. Twitter).

Der Anlass wurde grosszügig unterstützt von: